spd_berghahn_juergen_0175Herr Berghahn, skizzieren Sie für uns kurz die aktuelle Situation in Deutschland. (Interview vom 7.9.2015)

Aktuell überschlägt sich alles, die Zahlen von heute sind morgen schon wieder überholt. In München wurden 20.000 Flüchtlinge an einem einzigen Tag in Empfang genommen, große Zuläufe über Ungarn. Allein das verdeutlicht die immensen Flüchtlingsströme, aber auch die Schwachstellen der europäischen Politik, ja sogar der Weltpolitik. Schon 2011/2012 war bekannt, wie groß die Flüchtlingslager in der Türkei oder dem Libanon gewesen sind. Syrien 4 Mio., Irak 3,6 Mio. Flüchtlinge. Darauf hätte man vorbereitet sein können. Jeder kann sich das ganz einfach vorstellen. Wie wäre es, wenn ich in der Situation wäre und Krieg im eigenen Land hätte? Man will sich in Sicherheit bringen und geht zunächst in die Nachbarländer in der Hoffnung, dass der Krieg schnell vorbei ist und man dann schnell zurückkehren kann.

Wenn man dann erkennen muss, dass diese Situation sich über Jahre ziehen wird, dann will man seine Zukunft sichern und geht dann in andere Länder, Europa liegt da nahe. Das ist auch der Punkt, warum ich sage, in Brüssel wurde zu spät reagiert. Im November soll es einen Flüchtlingsgipfel geben, was viel zu spät ist – das Thema muss permanent und nicht nur einmal mit den Ländern beraten werden. Brüssel muss dafür sorgen, dass die Aufnahmesituation in den Ländern geregelt und auch geordnet ist – und Asylsuchende gleichmäßig verteilt werden. Einzelne Länder dürfen sich da nicht herausnehmen.

Deutschland ist derzeit das soziale und humanitäre Gewissen Europas.

Wir Deutschen können zwar stolz darauf sein, aber das kann auch nicht immer so weitergehen. Andere Länder müssen ebenfalls bereit sein, so viel zu tun wie wir. Wenn man sieht, wie viele Menschen einfach losgehen und helfen, an den Bahnhöfen direkt, aber auch in den Flüchtlingsunterkünften, einfach fantastisch.

Wann glauben Sie wird sich die Situation bereinigt haben, wie lange werden wir uns dieser Lage stellen müssen?

Man muss hier unterscheiden, aktuell treffen Menschen aus vielen Ländern ein. Aus Syrien und dem Irak werden es nicht weniger. Die Situation, Stichwort IS, wird sich weiterhin ausbreiten. Ich gehe davon aus, dass es sich noch über Jahre hinziehen wird. Die Menschen sehen im Heimatland aktuell keine Perspektive. Es ist anders als in der Vergangenheit, wo Asylströme sich nur über ein oder zwei Jahre zogen, hier wird das eine langfristige Sache. Das kann man nur ändern, indem in den Krisengebieten vor Ort gehandelt wird. Aktuell werden in NRW rund 7.200 Flüchtlinge pro Woche aufgenommen.

Man muss dafür sorgen, dass die Asylverfahren schneller bearbeitet werden. Die Entscheidung über das einzelne Asylverfahren dauert mit 6 – 7 Monaten zu lange! Maximal 3 Monate, so ist es mit dem Bund abgesprochen, sollte es dauern dürfen. Das soll kein Plädoyer für Schnellverfahren sein. Hier muss einfach mehr Personal zur Verfügung stehen. Beschleunigte Bearbeitung hilft dann auch denen, die einen Bleibeanspruch haben und entlastet auch die Kommunen und Länder mit der Unterbringung.

Die angespannte Lage – Futter für die rechte Szene?

Das ist sicherlich von Bundesland zu Bundesland anders. In NRW sehe ich derzeit eine wahnsinnig große Hilfsbereitschaft. Hunderte von Menschen bringen Lebensmittel, Kleidung oder Hygieneartikel zu Bahnhöfen und verteilen das einfach. Andererseits muss man dafür sorgen, dass die Leute dann auch eine Unterbringung bekommen und die Abläufe durch Verwaltung und Hilfsorganisationen ordentlich strukturiert laufen.

In unserem Bundesland überwiegt das Positive gewaltig, die Unverbesserlichen gibt es immer wieder. Dafür dürfen wir keinen Platz lassen und dem muss entgegengewirkt werden – ganz deutlich. Diese Leute versuchen immer ein Gefühl von Angst gegenüber dem Fremden, welches da auf uns zukommt, zu verbreiten. Wenn man aber selber mit den Menschen die auf der Flucht sind ins Gespräch kommt, dann erkennt man sehr schnell, dass es Menschen sind wie Sie und ich – die Angst wird dadurch schnell abgebaut.

Ihre Empfehlung?

Es geht nicht darum die Unterkünfte zu besichtigen, die Menschen brauchen auch einen persönlichen Raum. Aber Kontakt zu Hilfsorganisationen und Verwaltungen aufnehmen ist wichtig, dann werden eventuell bestehende Ängste mit Sicherheit abgebaut. Ein Kennenlernen auf neutralem Boden. Die Menschen die kommen, sind doch mindestens genauso unsicher. Sind völlig fremd, vor dem Krieg geflohen und wissen nicht, wie es weitergeht.

Was für Menschen sind das eigentlich, die da kommen?

Das sind Menschen, die oft eine abgeschlossene Ausbildung haben oder bereits mit dem Studium begonnen hatten. Letztlich muss uns doch klar sein, dass wer hierher kommt, er in der Lage ist Schlepperbande zu bezahlen. Das ist denen, die in ihrem Heimatland auf der Straße leben, doch gar nicht möglich. Es sind also hauptsächlich Menschen, die in ihrem Heimatland zu den besser gestellten gehörten.

Deutschland ist offen, das Land vieler Kulturen. Ist das ein Vorteil, oder geben wir zu viel unserer eigenen Kultur auf?

Wir geben nicht zu viel unserer Kultur auf. Im Grunde sind wir seit Jahrzehnten ein Zuwanderungsland. Angefangen von Zeiten nach dem Krieg, kam aus Osteuropa eine erste große Flüchtlingswelle (von Deutschen). Dann die Gastarbeiter, die dringend gebraucht wurden, aus Südeuropa. Unserer Kultur hat das nicht geschadet, wir haben viele Dinge hinzugewonnen. Ein anderes Beispiel für Blomberg? Viele Niederländer sind hier geblieben und haben unsere Kultur bereichert.

Wir sehen aktuell jedoch leider, dass jedes Land einzeln für sich agiert. Die Ungarn schotten sich derzeit ab, alles was durchkommt, wird nach Deutschland weitergeleitet. „Ein deutsches Problem“, heißt es dort.

Die Polen sagen: „Europa schön und gut, aber Flüchtlinge nehmen wir nicht weiter auf.“ Die große spannende Frage ist: Sind wir ein einheitliches Europa mit einheitlichen Gesetzen und Standards? Dann müssen auch alle ihren Beitrag dazu leisten. Sonst sind wir nicht die Europäische Union, sondern nur ein gemeinsamer Wirtschaftsraum.

Wir gehen davon aus, dass die Flüchtlinge lange bleiben und es dadurch zu kulturellen Veränderungen, allerdings im Positiven, kommen wird. Die wollen sich einbringen, hier leben und arbeiten. Einige werden bestimmt auch wieder ins Heimatland gehen um beim Wiederaufbau nach dem Krieg zu helfen. Aber viele werden auch bleiben und wir können diese Menschen auch gebrauchen. Demografie ist bei uns

nunmal ein Thema und wir brauchen Menschen, die die Renten bezahlen und die Wirtschaft in Deutschland mit uns gemeinsam auf dem hohen Stand halten.

Ein Schlusswort?

Was wir derzeit erleben fortführen: offen sein, aufeinander zugehen, Toleranz auf beiden Seiten finden.

Vielen Dank an unseren Landtagsabgeordneten, der im Interview seine Begeisterung für das bisherige Engagement vieler Menschen verdeutlichte und sich noch mehr Menschen wünschen würde, die diesem Beispiel folgen.


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